Cover
Title
Dynamiken des Scheiterns. Akteure, Netzwerke und Transferprozesse der bundesdeutschen Polizeihilfe für Guatemala (1986–1991)


Author(s)
Bennewitz, Fabian
Series
Lateinamerikanische Forschungen
Published
Köln 2024: Böhlau Verlag
Extent
385 S.
Price
€ 70,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Torsten Konopka, Potsdam

Sicherheitspolitische Kooperationen zur Reform von Sicherheitssektoren in Drittstaaten werden spätestens seit dem überstürzten Abzug der NATO-Partner aus Afghanistan mit Argwohn betrachtet. Bei ihrem Vormarsch hatten die dort siegreichen Taliban Fahrzeuge, Waffen und andere Ausrüstung im Wert von Milliarden erbeutet, die vor allem von den USA zum Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte ins Land gebracht worden waren. Um das militärische, polizeiliche, diplomatische, entwicklungspolitische und humanitäre Engagement Deutschlands in Afghanistan zwischen 2001 und 2021 aufzuarbeiten, hat der Bundestag 2022 eigens eine Enquete-Kommission ins Leben gerufen, um Lehren für künftige deutsche Engagements im Ausland zu ziehen.1 Während ähnlich anmutende Projekte, beispielsweise im Irak, unbeirrt fortlaufen, gibt ein Blick in die Geschichte Anlass zur Frage, ob das deutsche Afghanistan-Engagement und der dort gescheiterte Versuch eines nation building nach westeuropäischem beziehungsweise nordamerikanischem Vorbild als Einzelfall behandelt werden sollte oder ob „gescheiterte“ Kooperationen besonders im Sicherheitssektor schon aufgrund der Heterogenität der beteiligten Akteure womöglich eher die Regel sind. Fabian Bennewitzʼ Untersuchung zur bundesdeutschen Polizeihilfe in Guatemala wirft diesbezüglich ein bedenkliches Licht auf eine scheinbar lernresistente Bundespolitik.

Sicherheitspolitische Kooperationen zum Auf- oder Umbau von Sicherheitsorganen in Drittstaaten sind keine Neuheit in der bundesrepublikanischen Geschichte. Seit 1961 gewähren die Bundesressorts ausgewählten Ländern des Globalen Südens – zeitgenössisch bezeichnet als Staaten der „Dritten Welt“ – militärische und polizeiliche Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe (die Ausrüstungshilfe wurde 1986 umbenannt in „Ausstattungshilfe“). Während des ideologischen Wettstreits mit den Staaten der Warschauer Vertragsorganisation sahen die Entscheidungsträger der jungen Bundesrepublik in solchen sicherheitspolitischen Kooperationen Möglichkeiten, die im internationalen Systemkonflikt stark engagierten USA zu entlasten und sich als guter Partner zu präsentieren. Gleichzeitig versuchten sie auf die meinungsbildenden Personen der umworbenen Staaten einzuwirken. Hierdurch erhofften sie sich, den globalen Einfluss der DDR und der anderen Ostblockstaaten begrenzen zu können sowie internationalen Rückhalt für eigene politische Ambitionen zu generieren. Militärische beziehungsweise polizeiliche Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen für Länder des Globalen Südens wurden so zu einem wohldosiert genutzten Instrument der bundesdeutschen Außenpolitik.

Im Fokus der deutschen Forschung standen bislang vor allem sicherheitspolitische Kooperationen mit afrikanischen oder asiatischen Staaten; auch das bereits im vergangenen Jahrhundert begonnene sicherheitspolitische Engagement der Bundesrepublik in Afghanistan wurde historisch untersucht.2 Forschungen zu derartigen Kooperationen mit Staaten in Latein- beziehungsweise Zentralamerika waren dagegen bislang die Ausnahme. In diese Lücke stieß zwischen 2017 und 2020 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes, von Markus-Michael Müller geleitetes Projekt an der Freien Universität (FU) Berlin.3 Fabian Bennewitz war daran als wissenschaftlicher Mitarbeiter beteiligt; das vorliegende Buch ist die Druckfassung seiner Dissertation.

Die bundesdeutsche Polizeihilfe für das zwischen 1960 und 1996 in einem internen bewaffneten Konflikt befindliche Guatemala zählt zu den späten sicherheitspolitischen Kooperationen, die von den Bundesressorts während des Ost-West-Konflikts initiiert wurden. Diese Polizeihilfe begann erst 1986, dem Jahr, in dem der neu gewählte zivile Präsident Marco Vinicio Cerezo Arévalo nominell die Amtsgeschäfte von den zuvor herrschenden Militärs übernahm. Während einer knapp fünfjährigen Laufzeit (1986–1991) hatte die Kooperation ein Finanzvolumen von rund 10,6 Mio. DM und war die größte derartige bundesdeutsche Hilfe gegenüber einem Staat in Latein- beziehungsweise Zentralamerika. Neben der Lieferung von Fahrzeugen und Motorrädern umfasste sie auch die Ausbildung von guatemaltekischen Beamten durch bundesdeutsche Polizeiexperten in Guatemala sowie von Stipendiatinnen und Stipendiaten an Polizeieinrichtungen in der Bundesrepublik. Offizielles Ziel der Kooperation war die Reform der für schwere Menschenrechtsverletzungen berüchtigten guatemaltekischen Polizei hin zu einer demokratisch-rechtsstaatlichen Institution. Den nominell wertebasierten Ansprüchen wurde das Projekt aber nie gerecht. 1991 wurde es aufgrund ausbleibender Erfolge, divergierender Vorstellungen und neuer Menschenrechtsverletzungen der guatemaltekischen Sicherheitsorgane von den Bundesressorts vorzeitig beendet.

Bennewitz analysiert die Polizeikooperation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guatemala weitgehend chronologisch. In sechs Hauptkapiteln, plus Einleitung und Fazit, untersucht er teils minutiös die unterschiedlichen Etappen des Projekts. Sein Ziel ist jedoch nicht die bloße Beschreibung des bundesdeutschen Polizeiengagements. Im Zentrum der Arbeit steht die Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses, welcher der Kooperation vorausging. Anknüpfend an die sozialwissenschaftlichen Konzepte der Akteur-Netzwerk-Theorie versteht Bennewitz außenpolitisches Handeln als Interaktion verschiedener aktiver und passiver Akteure unterschiedlicher Netzwerke. Staaten, aber auch Regierungen, Ministerien oder Sicherheitsorgane betrachtet er nicht als monolithische Akteure. Die Bundesregierung sieht Bennewitz als „heterogenes Netzwerk“ mit unterschiedlichen, unter dem Einfluss verschiedener Parteien stehender Ministerien (S. 121). Die am Entscheidungsprozess beteiligten Ministerien deutet er als „fraktale Netzwerke“, in denen verschiedene Abteilungen beziehungsweise Referate oder Dienststellen divergierende Positionen vertraten (S. 122). Diese Akteure beeinflussten außenpolitisches Handeln in unterschiedlicher Weise und versuchten ihre jeweils eigenen Interessen durchzusetzen. Im Kontext der guatemaltekischen Polizeihilfe bedeutete dies, dass – anders als bei vielen Beispielen auf dem afrikanischen Kontinent – das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und das Bundesministerium des Innern (BMI) eine Vorreiterrolle einnahmen und das nominell federführende Auswärtige Amt (AA) praktisch zu einem Projekt in Zentralamerika genötigt wurde, von dessen Erfolg nicht alle Diplomaten überzeugt waren. Während polizeifachliche Erwägungen von Beginn an wohl nur eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung spielten, erweitert Bennewitz das Netzwerk der Entscheidungsträger unter anderem mit der Konrad-Adenauer-Stiftung als „Broker“ auf erkenntnisreiche Weise. Später traten neben zahlreichen guatemaltekischen Entscheidungsträgern noch weitere Akteure hinzu. Selbst Gegenstände wie Autos wirkten sich auf die Gestaltung des Projekts aus und werden von Bennewitz hinsichtlich ihrer Rolle im Netzwerk analysiert.

Schon durch den gelungenen methodischen Ansatz bietet die Publikation einen Mehrwert für geschichtswissenschaftliche Forschungen. Die Untersuchung gibt berechtigten Anlass zu fragen, unter welchen Bedingungen Projekte zur Reform des Sicherheitssektors durch Dritte, wie sie in der Vergangenheit nicht nur von der Bundesrepublik, sondern beispielsweise in Mali oder Niger auch durch die Europäische Union initiiert wurden, erfolgreich sein können, wenn so viele unterschiedliche Akteure und Interessen bei der Ausgestaltung eines Projekts berücksichtigt werden müssen. Die Relevanz der Studie reicht daher weit über das Fallbeispiel Guatemala hinaus. Viel häufiger sollten bei der Analyse außenpolitischen Handelns Fragen einer institutionellen Federführung oder formeller beziehungsweise informeller Kompetenzverteilungen betrachtet werden, die äußerlich stringent erscheinende Abläufe in ein differenzierteres Licht rücken können. Bennewitzʼ Blick in den Maschinenraum der Bundesministerien demonstriert eindrücklich die „Akteursmacht der Beamten und Funktionäre“ (S. 145), die auch bei anderen außenpolitischen Handlungen der scheinbar einheitlich agierenden Bundesregierung untersucht werden sollte. Grundsätzlich ließen sich mit dem hier vertretenen Ansatz alle bisherigen sicherheitspolitischen Kooperationen – egal ob mit polizeilichem oder militärischem Schwerpunkt – kritisch hinterfragen. Dies schließt besonders auch die jüngsten Einsätze in Westafrika oder im Irak ein, wo die Bundeswehr aktuell weiter zur Reform der dortigen Sicherheitskräfte verwendet wird.

Mit Recht kritisiert Bennewitz, dass bei neuen sicherheitspolitischen Engagements zu selten auf historische Erfahrungen geachtet worden sei (S. 25f.). Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang ein historischer Abriss der bis 1986 getätigten Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen der Bundesressorts gewesen. Auch wenn die Begrenzung des Forschungsvorhabens auf eine bilaterale Kooperation von wenigen Jahren für eine Dissertation sinnvoll erscheint und im Kontext des genannten DFG-Projekts zu erklären ist, wäre eine Ausweitung der Studie auf andere lateinamerikanische Staaten oder gar ein Vergleich mit ähnlichen Projekten in Afrika oder Asien besonders lohnend gewesen. Zu fragen wäre etwa, ob es je nach regionaler Zuständigkeit und eventuellen Vorerfahrungen unterschiedliche Ansätze in den Referaten des AA oder des BMZ gab. Zudem wäre es von Interesse, die Herangehensweise für Polizeihilfen mit derjenigen für Militärkooperationen zu vergleichen oder auch die Abläufe sicherheitspolitischer Kooperationen anderer Staaten in die Untersuchung einzubeziehen (wie den USA, Frankreich oder Großbritannien). Hier öffnen sich weitere Forschungsfelder für künftige Qualifikationsarbeiten. Viele der von Bennewitz erkannten Elemente – Kompetenzstreitigkeiten, gegenläufige Akteursinteressen, Verschleierungstaktiken gegenüber den bundesdeutschen Parlamentariern und der Öffentlichkeit, haushaltsrechtliche und bürokratische Zwänge sowie Planungsmängel – dürften auch in anderen Fallbeispielen zutage treten. Dies gilt vermutlich nicht nur für sicherheitspolitische Projekte, sondern für eine Vielzahl von (außen-)politischen Handlungen.4

Weitere Forschungen sollten einem ähnlich akribischen Ansatz folgen, wie ihn Fabian Bennewitz entwickelt hat. Insbesondere die Einbeziehung lokaler Quellen durch Forschungsaufenthalte in Guatemala, die Auswertung zusätzlichen Archivmaterials außerhalb der Bundesrepublik und die Triangulation archivalischer Quellen durch Zeitzeugeninterviews – beziehungsweise umgekehrt – verdienen Anerkennung und setzen Standards. Da die Publikation im Open Access verfügbar ist, kann ein breiter Forschungskreis das Buch nutzen. Insbesondere angehenden Absolventinnen und Absolventen kann es als Inspiration und Vergleich für eigene geschichtswissenschaftliche Untersuchungen sicherheits- oder entwicklungspolitischer Kooperationen dienen. Selbstverständlich ließe sich der Ansatz auch auf Handlungen anderer Nationalstaaten oder multilateraler Organisationen übertragen. Dass die historische Aufarbeitung solcher Kooperationen nicht nur von wissenschaftlicher, sondern auch von politischer und gesamtgesellschaftlicher Relevanz sein kann, zeigt die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages auf eindrückliche Weise.

Anmerkungen:
1 Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“, https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/enquete_afghanistan (24.02.2024).
2 Vgl. Lars Ostermeier, Imaginationen rechtsstaatlicher und demokratischer Polizei. Deutsche Polizeiprojekte in Afghanistan von 1957 bis 2010, Weinheim 2017.
3 Siehe die Projektskizze: https://www.lai.fu-berlin.de/forschung/polizeihilfe/Deutsche-Polizeihilfe-fuer-Lateinamerika/index.html (24.02.2024).
4 Ähnliches lässt sich z. B. über die Entscheidungen zur Teilnahme der Bundesrepublik an VN-Missionen in Afrika sagen. Vgl. Torsten Konopka, Deutsche Blauhelme in Afrika. Die Bundesrepublik Deutschland und die Missionen der Vereinten Nationen Anfang der 1990er Jahre, Göttingen 2023.

Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Temporal Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review